Breitflächige Sperre als Rückfall in alte Zeiten?
Die ganz rigorose Linie der Community gegenüber „bezahlten Schreibern“ – also erst das Konto sperren, dann nicht miteinander reden – ist eigentlich aufgegeben worden. Wichtig ist an dieser Stelle das Wort „eigentlich“, zeigt es doch sehr deutlich, dass es hier Einschränkungen gibt.
Die meisten PR-Agenturen halten sich mittlerweile zurück, was ihr Engagement bei Wikipedia angeht. Schließlich haben sie selbst oft genug erfahren, wie rigoros die heterogene Community der Ehrenamtlichen mit vermeintlichen oder tatsächlichen „Bezahlschreibern“ umgeht. Bei Unternehmen ist eine Lernkurve kaum zu erkennen – schließlich gibt es deutlich mehr von ihnen. Anders als Agenturen, die für mehrere Kunden aktiv werden (und damit lernen) können, haben sie nur eigene Brille auf.
Bis vor drei Jahren aber wurden Akteure beider Gruppen ziemlich hart angegangen. Während in manchen Gegenden der Welt „erst schießen, dann fragen“ als Grundsatz gilt, hatte das bis dahin auch eine Entsprechung in Wikipedia. Wer als „Regelbrecher“ aus Unternehmen oder Agenturen auffiel, bekam umgehend sein Konto „in der gesamten deutschsprachigen Wikipedia für unbegrenzt gesperrt“ – manchmal schon auf Zuruf an einen Administrator, spätestens aber im Rahmen einer sogenannten Vandalismusmeldung. Wer im Rahmen einer „Benutzersperrprüfung“ den Zugang zurückerlangen wollte, musste sich auf eine feindselige Community einstellen, die „PR-Profis“ vorhielt, sich unprofessionell zu verhalten. Statt sich ins Regelwerk einzulesen, hätten sie einfach so losgelegt.
Von harter Linie zu gestufter Reaktion
Das hat sich geändert, seit einiger Zeit wird erst einmal nur ein Hinweis ausgesprochen (im Regelfall auf der jeweiligen Benutzerdiskussionsseite), auf den man in angemessener Zeit reagieren kann. Ignoriert man diesen Hinweis und arbeitet trotzdem als offensichtliches Benutzerkonto aus einem Unternehmen (oder einer Agentur) weiter, erfolgt üblicherweise die Sperrung für den Artikelnamensraum (im Wikisprech mit ANR abgekürzt). Damit kann man immer noch auf der jeweiligen Benutzerseite – oder deren Diskussionsseite – offenlegen, dass man a) „bezahlt“ arbeitet und b) in wessen Auftrag. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel, denn unbelehrbar erscheinende Konten werden komplett gesperrt.
Auch wenn Benutzerkonten also mittlerweile nicht mehr sofort der Saft abgedreht wird, hat eine Sache weiterhin Bestand. Der Ton wird nach wie vor schnell schroff und die Hilfsbereitschaft geht immer noch gegen Null. Selbst gut gemeinte Bearbeitungen werden trotz des verbesserten Klimas manchmal unter fadenscheinigen Begründungen zurückgesetzt. Rückfälle in alte Muster finden sich aber dennoch. Aktuelles Beispiel: der Chef der Agentur osicom.
Neue Praxis – alte Reflexe
Auf der Benutzerdiskussion finden sich einige der zuvor skizzierten Haltungen wieder. Der erfreuliche Punkt ist die Aussage des Administrators, der das Benutzerkonto des Agenturinhabers gesperrt hat:
Sperre wird bei Nachholung der Offenlegung aufgehoben. Bitte dann bei mir oder auf Wikipedia:Sperrprüfung melden. Danke. --Nordprinz (Diskussion) 11:16, 22. Mai 2025 (CEST)
Beispielhaft für den scharfen Ton – und die Erwartungshaltung – steht das nachfolgende Zitat:
Es ist schon ziemlich unverschämt wie du hier als Bezahlschreiber Ehrenamtler auf Trab hältst, weil du nicht professionell arbeitest, denn von einem Profi sollte man erwarten können, dass ersie sich die hier veröffentlichten Infos selbst besorgt. --Lutheraner (Diskussion) 12:53, 22. Mai 2025 (CEST)
Im weiteren Verlauf wird klar, dass das Benutzerkonto zwar bereits seit dem 10. Dezember 2013 existiert, aber angesichts von nur 89 Beiträgen kaum Erfahrung im Umgang mit der Community vorhanden ist. Das zeigt sich an der Gegenrede Ich verwehre mich gegen die Bezeichnung 'Bezahlschreiber'., die umgehend zur Antwort Dann mache mal – du kannst dich noch so viel verwahren, ich nenne das wie es ist und wie ich das sehe. Zum Profi gehört eben auch, dass man sich professionell verhält, das sehe ich hier nicht. führt.
Ein Fallbeispiel: Agenturinhaber unter Beschuss
Ansonsten greift die Community in diesem Fall auch in die Werkzeugkiste, um gefühlt alles aus dem Fall herauszuholen. Das zeigt sich beispielsweise an den beiden Vandalismusmeldungen zu zwei Benutzerkonten, welche die Community der Agentur zuordnet (hier zum Nachlesen). Dabei schießt sie allerdings übers Ziel hinaus. Der Grund für diese Einschätzung findet sich in der Sperrbegründung
„Benutzer [...] wurde von Nolispanmo in der gesamten deutschsprachigen Wikipedia für unbegrenzt gesperrt; Begründung war: Fehlende Offenlegung bezahlter Bearbeitungen gemäß Ziffer 4 der Nutzungsbedingungen.“
Die verpflichtende Offenlegung „bezahlter Bearbeitungen“ hat erst im Juni 2014 Eingang in die Terms of Use gefunden, wie der Blick in die Versionsgeschichte zeigt. Die beiden gesperrten Benutzerkonten waren aber nur von 2006 bis 2011 respektive 2011 und 2012 aktiv, also vor der Gültigkeit des Sperrgrundes. Da der gesamte Vorgang im Projekt „Umgang mit bezahltem Schreiben“ diskutiert wird, sind noch weitere Konten aufgeführt worden, die Verdachtsfälle sein können. Wie früher wurden auch diese gesperrt, zwei von ihnen beispielsweise mit der schönen Begründung
„Wegwerfsocke mit PE-Verdacht“
Dass das eine Konto tatsächlich nur eine Bearbeitung im Jahr 2018 aufweist, sieht in der Tat nicht optimal aus. Aber ein Bezug zur Agentur lässt sich daraus nicht ableiten. Gleiches gilt für das andere Konto, das nur 2011 aktiv war – also vor Inkrafttreten der Offenlegungspflicht. Gesperrt wurden diese Konten übrigens auf indirekten Zuruf, eben weil sie im Zuge einer Diskussion genannt wurden.
Checkuser-Anfrage als Damokles-Schwert
Mit der Diskussion auf der Projektseite sowie den Sperren nach Vandalismusmeldung und ohne ist es aber noch nicht getan, der Werkzeugkasten hält noch weitere Maßnahmen bereit. Dazu gehört beispielsweise die Checkuser-Anfrage. Sie dient dazu, den Zusammenhang zwischen den benannten Benutzerkonten zu bestätigen (oder eben deren mutmaßliche Differenz) oder nach weiteren Konten zu „fischen“. Die aktuelle Anfrage leidet dabei aber unter einem ähnlichen Problem wie die Sperren: Es ist manches viel zu lange her.
Von den fünf aufgeführten Konten haben drei zuletzt 2011, 2012 respektive 2015 editiert. Vorratsdaten werden aber nur 90 Tage gespeichert. Insofern lässt sich lediglich für die beiden Konten, die im Mai 2025 aktiv waren, eventuell eine Verbindung herstellen. Kommt der ehrenamtliche Autor mit der Berechtigung für diesen datenschutzrechtlich sensiblen Bereich zu dem Schluss, dass hier ein Benutzer zwei Konten betreibt, wird er dies entsprechend als Ergebnis bekannt geben. Ein Administrator wird daraus den Schluss ziehen, beide Konten unbegrenzt zu sperren. Und das oben zitierte Angebot „Sperre wird bei Nachholung der Offenlegung aufgehoben“ ist damit hinfällig...