Der Umgang mit Eltern und Großeltern
Mit bezahltem Schreiben hat der an vier Beispielen dargestellte Umgang mit den Eltern bzw. Großeltern nichts zu tun, sicherlich aber mit interessegeleitetem Schreiben. Insofern dient dieser Blick über den Tellerrand im Kontext dieses Blogs als Muster für die Heterogenität der Wikipedia-Community – oder als Muster für den heterogenen Umgang mit grundsätzlich vergleichbaren Sachverhalten.
„Grundsätzlich“ heißt im Fall der vier nachfolgend skizzierten Biografien, dass die Generation der Kinder bzw. Enkel über bundesrepublikanische Lebensläufe sowie über Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia verfügt und die die Lebensläufe der ebenfalls mit Artikeln ausgestatteten Eltern bzw. Großeltern auf die eine oder andere Art mit der letzten Diktatur auf gesamtdeutschem Boden verstrickt sind.
In dieser Vandalismusmeldung vom 6. Oktober 2022 gegen den Benutzer Charkow ging es um den Virologen Hendrik Streeck (* 1977), in dessen Artikel der Benutzer unbedingt den Großvater Hans Streeck (laut Artikel ein „Chemiker, Manager und SS-Funktionär“) einfügen wollte. Von einem Administrator wurde das zurückgesetzt. Offensichtlich wurde zwei Monate lang kein Konsens gefunden, denn mit Verweis auf die bewegte Versionsgeschichte des Artikels folgte die Vandalismusmeldung vom 5. Dezember 2022, die für eine einwöchige Edit-Sperre im Artikel sorgte. Tatsächlich dreht sich diese Debatte schon länger, wie Diskussion:Hendrik Streeck#«Opa war kein Nazi» zeigt – da ist der erste Beitrag vom 2. Juni 2021.
Mit Stand 5. Dezember 2022 liest sich das im Abschnitt „Familie“ wie folgt:
Streecks Mutter, Annette Streeck-Fischer, ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und lehrt als Professorin an der International Psychoanalytic University Berlin.[3] Sein Vater Ulrich Streeck ist Psychiater und Soziologe und lehrte an der Georg-August-Universität Göttingen, sein Onkel Rolf-Eberhard Streeck war Molekulargenetiker an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.[4]
Beim nicht erwähnten Großvater Hans Streeck liest sich der biografische Teil (Stand 1. November 2022) auszugsweise so:
Von November 1933 bis Ende März 1935 war er Mitglied der SA und wechselte dann in die SS.[4] Ab Juni 1934 arbeitete er im Alizarin-Hauptlabor der I.G. Farben im Werk Hoechst unter dem überzeugten Nationalsozialisten und fanatischen Antisemiten Georg Kränzlein.
In der seit Juni 2021 laufenden Diskussion bei Hendrik Streeck sind drei weitere Personen mit belasteten Vorfahren angeführt worden. Eine davon ist der Kurator, Theaterautor, Dramaturg, Regisseur, Hochschullehrer und Philosoph Felix Ensslin (* 1967).
Bei ihm liest sich die Familiengeschichte (Stand 31. Oktober 2022) so:
Felix Ensslin ist der Sohn der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin und des Autors und Verlegers Bernward Vesper. Seine Großväter sind der Dichter und Schriftsteller Will Vesper väterlicherseits und der Pfarrer Helmut Ensslin mütterlicherseits. Sein Patenonkel war der Wortführer der Studentenbewegung Rudi Dutschke.[1]
Im Artikel zum Großvater Will Vesper (Stand 22. März 2022) finden sich u.a. diese drei Sätze zu seinem Lebenslauf:
Bei der Verbrennung als „undeutsch“ verhöhnter Literatur am 10. Mai 1933 in Dresden hielt Vesper die Festrede. Er gehörte auch zu den 88 Schriftstellern, die im Oktober 1933 das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler unterzeichneten.[3] [...] Vesper stellte sich wie kaum ein anderer Schriftsteller in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda und polemisierte, neben reiner Parteidichtung und zahlreichen „Führergedichten“,[3] besonders aggressiv gegen nicht genehme Schriftstellerkollegen, vor allem gegen Exilanten.
Nachdem zum aktuellen Stand bei Hendrick Streeck die verstrickte Großelterngeneration gar nicht erwähnt wird, bei Felix Ensslin wenigstens namentlich und mit Verlinkung, sieht es bei Richard von Weizsäcker (* 1920) anders aus, wobei es hier naturgemäß die Elterngeneration ist. In seinem Artikel (Stand 21. November 2022) wird die Tätigkeit des Vaters genannt:
Die Familie lebte [...] in Berlin, wo der Vater zunächst Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes unter Konstantin Freiherr von Neurath wurde und 1938 zum Staatssekretär unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop avancierte.
Präziser ist natürlich die Darstellung im Artikel über den Vater (Stand 13. September 2022), wo es schon in der Einleitung heißt:
Wegen Mitwirkung an den Deportationen französischer Juden nach Auschwitz wurde er in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt
Die ausführlichste Darstellung der Vorfahren ist dann bei Beatrix von Storch (* 1971) zu sehen (Stand 4. Dezember 2022):
Mit Wilfried Schwerin von Krosigk teilt sie sich den Großvater Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk, der 1932–1945 als Reichsfinanzminister amtierte[9] und 1949 als Kriegsverbrecher verurteilt wurde.[10][11] Ihre anderer Großvater war der letzte Erbgroßherzog Nikolaus von Oldenburg,[12] Mitglied der NSDAP und der SA.