„Verwöhnte kleine Neros in tiefen Polstermöbeln“

Heute geht es nicht um bezahltes Schreiben, sondern um einen kleinen Einblick in die heterogene Wikipedia-Gemeinschaft. Wichtigste Erkenntnis vorab: Unternehmen und Agenturen sollten die potenzielle Reibungsfläche von Anfang an minimieren.

Also, der Großteil der regelmäßigen ehrenamtlichen Benutzer, hier vor allem der Artikelschreiber, legt Wert darauf, von Anfang möglichst gute Arbeit abzuliefern. Neulingen gelingt das aufgrund der Lernkurve naturgemäß nicht von Anfang an, aber wer das Hobby für sich entdeckt, macht schnell fantastische Fortschritte.

Doch keine Regel ohne Ausnahme, in diesem Fall beispielhaft Benutzer Hamburgum. In seiner wikipedianischen Vita stehen Stand heute 775 seit September 2017 erstellte Artikel, von denen nur 4 gelöscht wurden.[1] Dieser unglaublich geringe Anteil „verlorener Artikel“ zeigt, dass der Nutzer offensichtlich das Regelwerk der Wikipedia hinsichtlich der Relevanzkriterien verinnerlicht hat. Allerdings gibt es bei Hamburgum ein großes Problem...

Es besteht ein qualitativer Anspruch

Vom Umfang her sind faktisch alle neu angelegten sogenannte Stubs, also kurze „Artikelstummel“ mit wenigen Sätzen. Das war in der Anfangszeit der Wikipedia in Ordnung, als es noch wenig Texte gab und es auch um den schnellen Aufbau ging. Über die Jahre hat sich der Anspruch allerdings Richtung Qualität verschoben. So fordern beispielsweise die Relevanzkriterien für Wissenschaftler[2]:

Die Bedeutung der Forschungsarbeit des Wissenschaftlers soll im Artikel erkennbar sein. Insbesondere ist es nicht ausreichend, ausschließlich den Lebenslauf des Forschers von Geburt über Schule und Studium bis zur Professur zusammenzufassen.

Ein Beispiel für die typischen kurzen Artikel ist diese Artikelfassung des niederländischen Altorientalisten Mathieu Ossendrijver, die als einzige zusätzliche Bearbeitung einen Löschantrag enthält. Der „Artikel“ besteht aus vier Sätzen, einer Liste von zwei veröffentlichten Schriften und vier Weblinks. Das ist wahrlich nicht mit der zitierten qualitativen Anforderung in Einklang zu bringen – und entsprechend folgte zurecht ein Löschantrag.

Kritik aus den eigenen Reihen

Aus der Löschdiskussion[3] lassen sich dann zwei Erkenntnisse ziehen. Die erste: Das Zeitfenster von sieben Tagen bis zu einer möglichen Löschung kann, wie hier, zu einem beschleunigten Ausbau und einer echten Verbesserung führen. Die zweite Erkentnnis: Nicht alle etablierten Autoren der Wikipedia wollen die Arbeit übernehmen, die eigentlich bereits durch den Ersteller eines Textes erledigt werden sollte. Sichtbar wird das an folgendem Zitat aus der Löschdiskussion:

Es hat auch ein jeder das Recht, 10 Minuten zu googlen und Artikel mit den überall verfügbaren Informationen zu verbessern. Aber manche nutzen stattdessen ihr Recht, ihre und unsere Zeit mit Löschanträgen und Diskussionen zu verschwenden. Mir ist das unverständlich, aber anscheinend hat es sich mittlerweile als völlig akzeptable Verhaltensweise so eingebürgert. [4] --Tolanor 15:18, 6. Sep. 2023 (CEST)

Offensichtlich verfügt Tolanor über ein gutes Langzeitgedächtnis oder eine gute gepflegte Zitate-Datenbank, denn die auch im Original mit vier verlinkte Passage stammt von Dezember 2009 (liegt also bald 13 Jahre zurück) und kritisiert mit anderen, leicht polemischen Worten das angesprochene Verhalten:

du hast aber schon mal in den letzten jahren in eine echte Enzyklopädie so zum Vergleich geschaut, oder? Man könnte echt meinen bei Wikipedia fläzen sich nur noch verwöhnte kleine Neros in tiefen Polstermöbeln und verweigern alles, was nicht mundgerecht, vorgeschnitten und lauwarm von erlesenen jungen Sklavinnen serviert wird. -- southpark 11:12, 23. Dez. 2009 (CET)

Schlussfolgerungen für Unternehmen und Agenturen

Auf den ersten Blick geht es im hier skizzierten Fallbeispiel nur um „innere Angelegenheiten“ der freiwilligen Autoren. Tatsächlich lassen sich sehr plausibel auch zwei Schlussfolgerungen für Autoren aus Unternehmen und Agenturen ziehen.

  1. Wenn die Gemeinschaft keinen Willen zur enzyklopädischen Mitarbeit sieht (und Unternehmen sowie Selbstdarstellern wird üblicherweise Werbung/Marketing unterstellt), findet sich immer jemand, der diesen Unwillen zum Beispiel mit einem Löschantrag ausdrückt.
  2. So wie Hamburgum für Reibungsfläche aufgrund zu kurzer Artikel sorgt, sollten Unternehmen und Agenturen im Gegenzug auf zu lange Artikel verzichten. Das reduziert die Gefahr, dass die erste Erkenntnis am eigenen Text zu bewundern ist.