Warum Selbstdarsteller und Unternehmen in der Löschhölle der Wikipedia landen

Es gibt einen einfachen Grund, warum regelmäßig Artikel über Unternehmen und Personen in Wikipedias „Löschhölle“ landen, also ihre enzyklopädische Relevanz infrage gestellt wird. Die Antwort ist ziemlich einfach – hängt sie doch oft mit dem Titel des Artikels zusammen.
Grundsätzlich kann jeder in der Wikipedia mitmachen – ohne Anmeldung (dann hinterlässt man als Datenspur bislang immer eine IP-Adresse), mit einem anonymen Benutzerkonto oder mit klarem Bezug zu einem Unternehmen oder einer realen existierenden Person. Aber auch wenn ein jeder mitmachen kann: Sind alle Nutzer gleich oder doch manche gleicher?
Die Frage ist natürlich rhetorisch, denn trotz aller basisdemokratischer Ansätze ist die ehrenamtliche Community meritokratisch aufgestellt. Je länger jemand (konstruktiv) mitwirkt und sich vor allem auch an Diskussionen beteiligt, desto mehr Gewicht hat seine Stimme – insbesondere im Vergleich zu neuen Benutzern. Dazu kommt, dass mit der Aktivität auch die Erfahrung steigt, die neuen Benutzern naturgemäß abgeht. Dritter Punkt: Zeit. Manche Alteingesessenen verfügen über ein überraschend großes Zeitkonto, dass sie Menschen mit Büroarbeitszeiten bzw. Menschen mit eigentlich anderen Aufgaben schlicht durch Ausdauer übertrumpfen.
Was ist die „Löschhölle“ in Wikipedia?
Der Ausdruck „Löschhölle“ wird von Teilen der Wikipedia-Community ironisch für die Meta-Seite „Löschkandidaten“ gebraucht. Dort landen alle Seiten, auf die jemand einen regulären Löschantrag gestellt hat. Im Idealfall sollte dieser gut begründet sein und dann wird im Regelfall mindestens sieben Tage diskutiert, ob die konkrete Seite bleiben darf oder verschwinden muss.
Für die Autoren ist schon ein einfacher Löschantrag oft genug Stress, haben sie doch vielfach Zeit, Mühen und Herzblut in ihr Thema gesteckt. Dann kommt die Tonalität der Löschdiskussionen dazu, die manchmal sehr robust sein kann und noch mehr Stress auslöst. Das gilt umso mehr, wenn man diese Meta-Bereiche nicht kennt und von den Alteingesessenen, die dort oft mitdiskutieren, damit abgebürstet wird, man möge doch etablierten Autoren nicht das Regelwerk erklären.
Wie kommen Unternehmen und Selbstdarsteller nun konkret in die „Löschhölle“?
Die Meritokratie zeigt sich nicht nur im „Gewicht“ einer Meinung, sondern auch im „Vertrauen“ in die Fähigkeiten und den Willen zur enzyklopädischen Mitarbeit eines neuen bzw. wenig erfahrenen Nutzers. Sichtbar wird das in den abgestuften Rollen „passiver Sichter“ und „aktiver Sichter“, die man mit der Zeit erreichen kann.
Für nicht angemeldete und neue Autoren gilt nämlich, dass ihre Bearbeitungen zwar gespeichert werden, aber sie erst einmal nicht sichtbar sind – denn dafür müssen sie von erfahrenen Nutzern auf Plausibilität und Nutzen überprüft werden. Passt soweit alles, erfolgt die Freischaltung, im Jargon der Community „sichten“ genannt. Ist man wenigstens 30 Tage angemeldet, hat wenigstens acht Artikel bearbeitet, mehrfach Abstände von wenigstens drei Tagen zwischen Edits und zudem eine bestimmte Menge an Bearbeitungen, kommt man in Betracht, vom einfachen Nutzer zum passiven Sichter aufzusteigen. Auf dieser Ebene sind eigene Bearbeitungen sofort sichtbar. Bleibt man dann am Ball und erfüllt quantitativ höher liegende Kriterien, wird man aktiver Sichter.
Mitarbeiter aus Unternehmen, die sich (unter eigenem Namen oder mit der Firma) in Wikipedia einbringen, und Selbstdarsteller scheitern auf diesem meritokratischen Weg meist daran, dass sie langfristig noch nicht einmal die geforderte Vielfalt bei den bearbeiteten Artikeln erreichen – sie also nie zumindest den Status „passiver Sichter“ erreichen.
Dazu kommt, dass sie im Regelfall kein übergeordnetes enzyklopädisches Interesse haben, sondern im Interessenkonflikt agieren, sie also nur die eigenen Belange im Blick haben. Entsprechend agieren sie bereits mit ihren ersten Edits im jeweiligen Unternehmen oder im eigenen Artikel und lenken entsprechend die Aufmerksamkeit der gestandenen Benutzer auf den jeweiligen Text. Zur Erinnerung: Was neue Autoren schreiben, muss gesichtet werden. Der schnellste Weg, diese Bearbeitungen zu finden, ist übrigens die in der linken Spalte verlinkte Seite Letzte Änderungen, bei der man auch explizit nach Erfahrungsstatus filtern kann.
Drei Beispiele aus dem Februar: ein Anwalt, ein Schriftsteller und ein Unternehmen
Am 9., 10. und 12. Februar sind in der Löschhölle drei Artikel aufgeschlagen, bei denen drei sehr etablierte Benutzer in kurzer bis kürzester Zeit die Relevanzfrage stellten. Vorausgegangen waren jeweils Bearbeitungen im Interessenkonflikt.
Am schnellsten ging es bei dem österreichischen Rechtsanwalt. Um 15.11 Uhr editierte das verifizierte Benutzerkonto von Meinhard Ciresa (das Konto wurde am 12. Februar 2024 erstellt) im eigenen Artikel und sieben Minuten später stellte Lutheraner (Konto erstellt am 25. Juni 2007, über 315.000 Bearbeitungen) den Löschantrag.

Im Artikel über Uwe Kullnick, einen Schriftsteller und Herausgeber eines Literatur-Podcasts, ist hingegen eine Nacht verstrichen (genauer: 17 Stunden und 47 Minuten). Anders als beim vorhergehenden Beispiel besteht bei dem Benutzer Fennek2024 (Konto am 2. Februar 2024 erstellt) keine eindeutige Zuordnung. Allerdings editiert die Person hinter dem Konto bislang ausschließlich in diesem und einem weiteren Artikel, die beide schon einmal im Wiki-Projekt „Umgang mit bezahltem Schreiben“ thematisiert wurden. Auffällig ist hier in der Versionsgeschichte zudem, dass Millbart (erster Edit am 31. Mai 2005, insgesamt rund 52.000 Bearbeitungen) vor dem Löschantrag noch ein wenig „aufgeräumt“, also Inhalte gestrichen hat. Auch das ist ein typisches Muster im Umgang mit Unternehmens- und Selbstdarstellerkonten.

Ähnlich wie zuvor ist es beim Artikel über das mittelständische Metallverarbeitungsunternehmen Rosswag. Das für den Text verantwortliche Benutzerkonto Salvatore5276 (erstellt am 9. Januar 2024) ist vergleichsweise neutral benannt, hat aber ausschließlich zu Rosswag editiert – und eben das macht den Interessenkonflikt wahrscheinlich. Hier brauchte es sogar nur fünf Minuten, bis Alabasterstein (Konto am 8. Juni 2010 erstellt, rund 55.000 Bearbeitungen) in der Versionsgeschichte des Artikels auftaucht – und zwar mit einem sogenannten QS-Baustein. Das Kürzel steht dabei für Qualitätssicherung und hier geht es darum, Artikel im enzyklopädischen und/oder formalen Sinn zu verbessern. Über weitere Bearbeitungsschritte im Artikel wuchsen bei Alabasterstein dann aber offensichtlich Zweifel, so dass 63 Minuten nach dem letzten Edit von Salvatore5276 der QS-Baustein gegen einen Löschantrag ausgetauscht wurde.

Quellen der Screenshots sind die jeweiligen Versionsgeschichten, siehe hier zu Meinhard Ciresa, hier zu Uwe Kullnick und hier zu Rosswag.
Update 24. Februar 2024
Der Artikel Rosswag Edelstahl wurde zwischenzeitlich auf Rosswag verschoben. Das ist hier angepasst. Und zwei der drei Artikel wurden administrativ behalten – es ging zumindest für die beiden Personen schon einmal gut aus. Die Entscheidung zum Unternehmen ist noch offen.
Titelbild: Mark Hultgren from Pixabay